Der fünfte Advent
Eine JOHN SINCLAIR-Story von Ian Rolf Hill
„Bitte, kommen Sie schnell. Das müssen Sie sich ansehen. Aber erschrecken Sie nicht. Es … es ist einfach unbeschreiblich grauenhaft.“
Der Mann, der im offenen Portal der Kirche stand und hektisch winkte, machte einen reichlich verstörten Eindruck. Sein spärliches graues Haar war zerzaust, als hätte er es sich die vergangene Stunde, die wir gebraucht hatten, um hier raus zu fahren, unablässig gerauft.
„Keine Bange“, erwiderte ich lässig. „Wir sind einiges … Jesus Christ!“, fluchte ich, und mein Herz übersprang vor Schreck einen Schlag.
Clarence Sanders – so hieß der Mann, der uns an diesem frühen Montagmorgen aus dem Büroschlaf gerissen hatte – war aus dem Schatten des Portals ins Licht getreten. Er war der Küster der kleinen Kirche, die in einem der zahlreichen Vororte Londons stand. Dass er Schreckliches erlebt hatte, hatte er uns ja am Telefon bereits erzählt, doch wie groß das Ausmaß dieses Grauens war, sahen wir erst jetzt.
Meine Hand flog zum Griff der Beretta.
„Wer hat ihnen das angetan?“, fragte Suko mit krächzender Stimme. Seine Erschütterung war aus jedem einzelnen Wort herauszuhören.
„Äh, wie bitte?“
„Jemand muss Sie sehr hassen!“, stellte ich lakonisch fest.
Statt der Beretta zog ich das Kreuz unter dem Hemd hervor und sah aus dem Augenwinkel, wie Suko die Dämonenpeitsche kampfbereit machte.
„Was soll das denn werden, wenn es fertig ist?“
„Am besten Sie rühren sich nicht von der Stelle“, sagte ich leise und näherte mich langsam dem Küster, der zurückwich.
Angst und Unsicherheit flackerten in seinem Blick. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Möglicherweise spürte er die weiße Magie, die von meinem Talisman ausging. Seltsamerweise hatte sich das Metall nicht erwärmt.
Ein schneller Blick über die Schulter zurück zu Suko, der mir entschlossen zunickte. Er war auf der Hut und würde mir Rückendeckung geben. Sofort fühlte ich mich besser, und ehe sich Clarence Sanders versah, sprang ich mit einem gewaltigen Satz auf ihn zu. Ich presste das Kreuz auf seine Brust, also genau dorthin, von wo uns die satanische Fratze eines teuflischen Gnoms diabolisch angrinste.
„Nimm das, du Ausgeburt der Hölle“, brüllte ich.
Clarence Sanders riss entsetzt die Augen auf, mehr geschah jedoch nicht.
Das Kreuz hatte versagt!
Aber das war unmöglich! Für mich brach in diesen Sekunden eine Welt zusammen.
„Aus dem Weg, John!“, schrie Suko. „Ich versuche es mit der Dämonenpeitsche!“
„Okay“, brüllte ich und warf mich mit einem Hechtsprung zur Seite, rollte mich über die Schulter ab und zerrte die Beretta aus dem Halfter.
Sanders’ Blick irrte zwischen uns hin und her. „Mit der … was?“
Die blanke Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er sich auf dem Absatz herumwarf und in die Kirche flüchtete.
„Er haut ab, John!“, schrie Suko.
„Was du nicht sagst“, knurrte ich. „Hab schließlich Augen im Kopf.“
„Und jetzt?“
„Lass mich überlegen. Ich würde vorschlagen: hinterher!“
„Gute Idee“, schrie mein Partner und startete. Ich nahm mir die Zeit, um die Augen zu verdrehen, ehe ich Suko ins Kirchenschiff folgte.
„Komm heraus, Teufelsdiener!“, brüllte er, dass die Buntglasfenster klirrten.
„Niemals!“, kam es aus einer der Bankreihen, hinter der sich der Küster duckte. „Sie … Sie sind ja komplett irre.“
„Und Sie sind ein Diener des Satans. Sobald du freies Schussfeld hast, verpasst du ihm eine, John!“
Ich ließ die Beretta sinken und sah Suko von der Seite an. Er drehte sich verdutzt zu mir um und zeigte wortlos auf die Pistole, als wollte er mir sagen: Nun mach schon!
„Also, an dieser Stelle muss ich klarstellen, dass ich dein Vorgesetzter bin und zu entscheiden habe, wie wir vorgehen.“
Dieses Mal verdrehte Suko die Augen. „Das hab ich gesehen.“ Er streckte die Hand in Richtung Altar aus. „Bitte schön“, maulte er. „Wie gehen wir vor?“
Ich grinste knapp. „Indem du vorgehst und ich ihm eine überbrate, sobald ich freies Schussfeld habe.“
„Donnerwetter, da wär ich nie drauf gekommen.“
„Deshalb bin ich ja auch Oberinspektor. Und jetzt komm in die Hufe.“
Suko lief durch den Mittelgang und blieb abrupt stehen, als er etwas sah, das ich von meiner Position aus nicht erkennen konnte. „Hab ich dich, Satansdienser“, schrie Suko und jagte in die Bankreihe, hinter der der Küster aufsprang wie ein Kastenteufel.
Ich schoss aus der Hüfte, hatte aber zu hoch gezielt, sodass die Silberkugel durch eines der kunstvollen Bleiglasfenster jaulte und dem heiligen Sankt-wer-auch-immer ein drittes Auge verpasste. Egal, mit Schwund muss man rechnen. Vor allem bei der Geister- und Dämonenjagd. Wo gehobelt wird, fallen eben Späne.
„Scheiße“, rief der Küster. „Sie sind ja nicht ganz dicht.“
„Siehst du, John?“, schrie Suko. „Er ist vom Teufel besessen. Seine Aussprache ist unflätig und obszön.“
„Obszön? Wie sollte ich denn Ihrer Meinung nach reagieren, wenn Sie auf mich schießen?“, keuchte er und rannte rechts an der Mauer entlang in Richtung Altar.
Suko stand mir dummerweise in der Schusslinie. Außerdem war das Büchsenlicht zu schlecht. Daher ging ich zurück zum Portal und suchte den Lichtschalter.
Lange brauchte ich nicht zu fahnden und kurz darauf flammten zwei Lüster unter der Decke auf.
Ihr Schein erhellte den Altar, vor dem ein großer Adventskranz hing.
„Sieh dir das an, John!“, er hat den Altar entweiht!“
Ich nickte grimmig und lud die Beretta durch. „Dafür wird er bluten.“
„Ich werde was?“, erklang es hinter dem Altar. „Sie sind ja meschugge. Deshalb habe ich Sie doch angerufen.“
„Deshalb?“, rief ich entgeistert.
„Ja, doch. Oder glauben Sie, ich hätte Sie kontaktiert, wenn ich das gewesen wäre?“
„Und warum tragen Sie dann sein Abbild auf dem Pullover?“, wollte Suko wissen.
„Sein Abbild? Wessen Abbild?“
„Das ist ein Satanszwerg auf ihrem Norweger!“
„Das ist ein Weihnachtswichtel, Sie Depp!“, kreischte er mit sich überschlagender Stimme. „Den Pullover hat meine Frau gestrickt.“
Suko nickte ernst. „Das kommt hin, John! Vermutlich ist sie eine Hexe, die ihren Mann mit diesem Pullover zu ihrer willenlosen Marionette gemacht hat.“
Ich schloss zu meinem Partner auf und dachte über seine Worte nach. Gut möglich, doch das erklärte noch lange nicht, warum das Kreuz nicht reagiert hatte. Außerdem konnte ich den Blick nicht von dem gehörnten Smiley abwenden, den jemand dem Jesus auf dem Altarbild mitten ins Gesicht geklebt hatte.
Viel erschreckender war jedoch das, was mit dem Adventskranz geschehen war.
Ich schluckte und mein Magen verkrampfte sich.
Ja, verdammt, wir hatten schon eine Menge scheußlicher Dinge gesehen, aber das hier gehörte mit Abstand zum Widerwärtigsten. Das stellte selbst für Asmodis, den Teufel, eine neue Dimension der Grausamkeit dar.
Auf dem Adventskranz standen fünf Kerzen!
„Wer hat das getan?“, fragte ich und stapfte an Suko vorbei auf den Altar zu, hinter dem der Küster sich versteckte. Er wimmerte leise und kroch auf allen vieren vor mir davon. „Ich will wissen, wer das getan hat!“, brüllte ich und fuchtelte mit der Beretta herum.
„Ich weiß es doch nicht“, greinte Sanders und hob flehend die Hände. „Als ich heute Morgen in die Kirche kam, hab ich alles genauso vorgefunden, wie Sie es hier sehen.“
„Wann waren Sie davor das letzte Mal hier?“, fragte Suko.
Der Küster wandte meinem Partner den Kopf zu, der drohend die Riemen der Peitsche um die freie Hand wickelte. „G…gestern, zum Abendmahl.“
„Und da war noch alles normal, ja?“
„Ja, ich schwöre es.“
„War die Kirche abgeschlossen?“
Er nickte.
„Wer hat noch einen Schlüssel?“
„D…der Pfarrer und seine Haushälterin.“
Ich blickte Suko an, der nickte. Damit stand unser nächstes Ziel fest. Wir wollten uns bereits abwenden und das Gotteshaus verlassen, als der Küster sich auf Knien nach vorne warf und seine Hände in meine Jacke krallte.
„Nein, Sie … Sie können mich doch nicht allein mit diesem Grauen lassen. Das … das ist unmenschlich. Bitte, haben Sie doch Gnade mit einem alten Mann.“
Ich seufzte und löste seine Finger mit sanfter Gewalt von meiner Jacke. Dann drehte ich mich um, schritt auf den Altar zu und krabbelte hinauf. Mit einer schnellen Bewegung zog ich den Sticker von Jesus' Gesicht, der mir dankbar von seinem Kreuz aus zulächelte.
Da ich schon mal hier oben war, kümmerte ich mich auch gleich um die fünfte Kerze.
„Nimm das, du Scheusal“, schrie ich und feuerte die Beretta erneut ab. Diesmal traf die Silberkugel mit traumwandlerischer Sicherheit und fegte die fünfte Kerze herunter, die Suko geschickt auffing.
Die Silberkugel schlug gegen die untere Kante der Galerie, wo normalerweise der Chor sang, prallte ab und flog abermals durch ein Kirchenfenster. Wieder ein Heiliger weniger. Na ja, Sie wissen schon: Schwund und Späne und so …
Suko roch an der heruntergefallenen Kerze und verzog das Gesicht.
„Schwefel?“, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. „Viel Schlimmer. Bergamotte.“ Er holte eine Plastiktüte hervor, die wir normalerweise für Beweismittel oder Hundekot verwendeten, und schob die angeschossene Duftkerze hinein. „Immerhin hab ich jetzt ein Weihnachtsgeschenk für Sir James“, kommentierte er mit einem triumphierenden Grinsen.
Ich blies den Rauch von der Mündung und steckte die Beretta ins Holster. Danach sprang ich lässig vom Altar und klopfte im Vorbeigehen dem Küster auf die Schulter, der immer noch auf den Knien hockte und schluchzte.
„Danke! Danke! Haben Sie vielen Dank, Mister Sinclair.“
„Keine Ursache“, erwiderte ich lächelnd und winkte ab. „Aber es heißt Oberinspektor.“
Anschließend verließen Suko und ich in Zeitlupe die Kirche (bitte an dieser Stelle „We Are The Champions“ von Queen abspielen).
Hach, war das herrlich, wenn man notleidenden Menschen helfen konnte.
Zehn Minuten später erreichten wir das Portal.
In meinem Kopf sang Freddie Mercury gerade: „No time for losers. Cause we are the champions.“
Clarence Sanders rempelte uns so heftig an, dass wir überrascht zur Seite taumelten.
„Sind Sie wahnsinnig?“, rief ich außer mir vor Zorn. „Sie versauen unseren heroischen Abgang.“
„T…tut mir leid. A…aber Sie wissen doch gar nicht, wo Pater Mallory wohnt.“
„Da hat er recht, John“, warf Suko ein, und ich verzog die Lippen.
„Na schön. Wo ist es?“
Er deutete auf das gegenüberliegende Haus, dessen spitzer Giebel wie ein Messer in den wolkenverhangenen Himmel stach. Aus einem windschiefen Schornstein kräuselte sich Rauch.
„Dort vorne, Sie können es gar nicht verfehlen.“
Das stimmte, denn es war das einzige Haus weit und breit, das in direkter Nachbarschaft zum Friedhof und der dazugehörigen Kapelle stand.
„Wie gut, dass wir Sie haben“, erwiderte ich bissig. „Da hätten wir ja ewig gesucht.“
Ich ließ den Küster stehen und ging auf die Haustür zu. Ich war mir sicher, dass Suko mir folgte und klingelte. Es dauerte nicht lange, bis wir Schritte hinter der Tür vernahmen, vor der ein Kranz aus Tannengrün hing. Selbst der obligatorische Mistelzweig über dem Türsturz fehlte nicht.
Die Frau, die die Tür aufzog und uns mürrisch begaffte, wollte ich jedoch nicht unbedingt küssen. Aus verkniffenen Augen musterte sie mich und meinen Partner, während sie auf einer erkalteten Zigarre herumkaute.
„Was woll'n Sie?“, fragte sie mit einer Stimme, die jedes Reibeisen vor Neid hätte erbleichen lassen.
„Ähm, sind Sie die Frau des Küsters?“, platzte es aus Suko heraus, der sich dafür einen Ellenbogenstoß einfing.
„Sorry, Ma'am“, entgegnete ich freundlich und präsentierte ihr meinen Dienstausweis. „Mein Partner ist ein wenig forsch. Wir möchten gerne mit Pater Mallory sprechen, wenn möglich.“
Sie hob die Schultern. „Wird's wohl. Aber er pennt grad. Komm'se rein. Bin selbst grad erst gekommn.“ Sie bedachte Suko mit grimmigem Blick. „Und nein, ich bin nich' die Olle vom Clarence. Oder glauben Sie, ich würde meinen Kerl mit so nem Pullover rumlaufen lassen? Dafür braucht man nen Waffenschein, wenn'se mich fragen.“
Suko grinste von einem Ohr zum anderen. Er mochte die schrullige Haushälterin schon jetzt. Und sie sammelte gleich noch mehr Pluspunkte, als sie uns ein Stück selbstgebackenen Christstollen anbot, der in einer Tupperschale auf der Kommode stand.
„Oh, seien Sie herzlich bedankt“, sagte Suko.
„Brich dir bloß keinen ab“, erwiderte ich und folgte der Haushälterin durch den schmalen Flur in das rustikal eingerichtete, weihnachtlich dekorierte Wohnzimmer. Sogar der Baum stand schon geschmückt in der Ecke. Aber es war schließlich auch Heiligabend.
Warum, zum Teufel, arbeiteten wir überhaupt?
Ach, war ja auch egal.
Mein Blick saugte sich an dem Pfarrer fest, der zurückgelehnt im Ohrensessel saß, die Beine auf den Couchtisch gelegt. Der Mund stand offen, doch es drang kein Laut hervor.
Die Haushälterin ging um den Sessel herum und zerrte die Füße von der gläsernen Platte, auf der ein Adventskranz stand, aus dessen Mitte ein winziger gehörnter Totenkopf ragte.
Der fünfte Advent.
„Steh auf, du fauler Hund“, bellte die Matrone und schlug dem schlafenden Pfarrer die flache Hand gegen den Kopf, sodass dieser nach vorne kippte. „Gestern war Sonntag. Heut is' Montag. Da hatte Gott schon die Erde erschaffen und das Licht angeknipst.“
„Äh, Miss Haushälterin“, sagte ich vorsichtig.
„Was?“, blaffte sie mich an.
„Ich glaub, Pater Mallory wird heute nichts mehr schaffen.“
„Ach nein? Das werden wir ja sehen.“
Sie schlug gleich noch einmal zu, und das hielt Pater Mallorys Kopf nicht mehr aus. Schmatzend löste er sich um Rumpf, rollte über die Brust und plumpste vor seinen Füßen auf den Teppich.
„Oh“, machte die Haushälterin und sah mich mit geweiteten Augen an. „D…das wollte ich nicht.“
Ich winkte ab und wollte bereits einige beschwichtigende Worte loswerden, als sich Suko zu mir gesellte und mir über die Schulter sah, die er mit Puderzucker vom Christstollen vollsaute.
„Sag mal, wie kannst du ausgerechnet jetzt ans Essen denken?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht, ich tue es bereits. Pater Mallory wird eh nichts mehr zu sich nehmen. Und Umgebracht hat der Stollen ihn offenbar auch nicht.“
Dieser Logik konnte ich mich nicht entziehen und streckte die Hand aus, damit Suko mir etwas abgab, doch der drehte sich von mir weg, um sich noch schnell den Rest in die Backen zu stopfen.
Normalerweise hätte ich ihn dafür streng gemaßregelt, aber mehr als ein empörtes Schnauben schaffte ich heute nicht. Ein lautes Rascheln lenkte mich ab. Es kam aus dem großen Geschenkpaket, das neben dem Weihnachtsbaum stand und durch das sich gerade die Spitzen zweier Hörner bohrten.
Im nächsten Moment flog der Deckel von der Schachtel, und heraus sprang eine kleine Gestalt in weißem Gewand.
„Advent, Advent, ein Lichtlein brennt“, krähte das Geschöpf, bei dem es sich der Statur nach, um ein Kind handelte. Spontan hätte ich ja auf das Christkind getippt, aber dessen Gesicht bestand normalweise nicht aus einer gehörnten Teufelsfratze.
„Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier“, schrie es und deutete bei jeder Zahl auf eine Kerze des Adventskranzes, die daraufhin in Flammen aufging. Es war grünlich schimmerndes Feuer, das eine eisige Kälte verströmte.
Höllenfeuer!
„Suko!“, brüllte ich, doch der war verschwunden.
„Jaaa“, drang es schwach hinter einer Tür am anderen Ende des Flurs hervor.
„Verdammt, wo steckst du? Es ist Asmodis. Er ist hier!“
„Ich kann gerade nicht!“, schrie mein Partner und produzierte Geräusche, die ich an dieser Stelle unmöglich wiedergeben kann und will. „Es war der Stollen, John. Ich glaub, der war nicht gut.“
Ich wirbelte herum und schrak zurück, als das Teufelschristkind dicht vor mir auftauchte.
„Dann steht das Christkind vor der Tür!“, setzte es den Gesang fort.
Ich griff nach dem Kreuz und kassierte einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienbein.
„Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt!“, grölte es und lachte so schaurig, dass es mir kalt den Rücken hinunterrieselte.
Ich fiel auf die Knie und sah durch den Schleier aus Tränen, wie die fünfte Kerze auf dem Totenschädel entflammte.
„Nein“, schrie ich außer mir vor Entsetzen. Ich konnte einfach nicht fassen, dass Asmodis zu so etwas fähig war. Klar, er war der Teufel, aber das …?
Mir blieb nur noch eines zu tun. Ich rang die Hände gen Himmel und brüllte: „NEEEIIINNN!“
Ich prallte so hart auf den Fußboden, dass ich schlagartig aufwachte.
„John, um Himmels willen, was ist passiert?“
Ich blinzelte überrascht, als ich das erschrockene Gesicht von Sir James über mir sah. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich mich im Büro befand. Mein Blick wanderte zu dem Schreibtisch, an dessen Kante ich mich in die Senkrechte hangelte und auf den Knien verharrte. Geduckt spähte ich über die Arbeitsplatte hinweg zu dem Platz, auf dem mein Partner normalerweise saß.
„Wo ist Suko?“, fragte ich mit krächzender Stimme.
„Das wollte ich Sie auch gerade fragen“, erwiderte Sir James. „Sie müssen nämlich noch mal raus. Irgendein Küster hat angerufen und …“
Langsam erhob ich mich, den Ausführungen meines Chefs nur mit halbem Ohr lauschend. Meine Aufmerksamkeit galt dem halb aufgegessenen Christstollen, der auf dem Tisch stand.
„Guten Rutsch, John Sinclair!“, stand in geschwungener Handschrift auf dem kleinen Kärtchen daneben. Da wusste ich, wo Suko steckte.
„Haben Sie gehört, John? Clarence Sanders will sie sprechen.“
Mein Kopf flog herum. „Sanders? Was …? Welcher Tag ist heute?“
„Na, der einunddreißigste Dezember. Gestern war der fünfte Advent.“
Mein Blick wanderte zu dem Adventskranz, der unter der Decke schwebte. Fünf Kerzen brannten darauf, die untereinander mit dünnen Fäden verbunden waren, die ein Pentagramm bildeten.
„NEEEIIINNN!“
*
*
*
ENDE